Codex Sinaiticus
Die älteste griechische Bibelhandschrift mit dem vollständigen Neuen Testament entstand im 4. Jahrhundert. Der Leipziger Theologe Konstantin Tischendorf schenkte die zuerst gefundenen 43 Pergamentblätter 1844 der Universitätsbibliothek.
(Slider, Abb. 1) Die Seiten des Codex Sinaiticus bestehen aus feinstem Pergament. Das Material (aus Schaf- oder Ziegenhaut) wurde mehrfach bearbeitet und ist sehr dünn. Schon an diesem außergewöhnlichen Beschreibstoff und seinem großen Format (ca. 34,5cm x 38cm) zeigt sich, wie wertvoll die Handschrift für den Auftraggeber war. Über diesen ist nichts bekannt; vermutlich war er ein vermögender Kaufmann, der zum Christentum übertrat.
Eine Besonderheit stellt auch die Aufteilung des Textes auf vier Spalten dar; dies ist ein Kennzeichen dieser Handschrift, die vermutlich in Palästina entstand (nur die Psalmen sind zweispaltig niedergeschrieben). In der linken Spalte endet das Buch 'Jeremia', was durch eine verkürzte Spalte, eine einfache Zierleiste und den Namenszug verdeutlicht wird. Geschrieben ist der Codex Sinaiticus in griechischen Großbuchstaben ohne Wortzwischenräume (sog. Unzialschrift). In der zweiten Spalte beginnt ein neues Buch, die 'Klagelieder Jeremia', wobei der Text deutlich erkennbar in kurze Abschnitte mit Überschriften gegliedert ist.Die Handschrift weist weist zahlreiche Korrekturen auf. Insgesamt sind es über 26.000 Stellen, die auf den über 400 vorder- und rückseitig beschriebenen Blättern zu erkennen sind. Die meisten Korrekturen stammen von den vier ursprünglich beschäftigten Schreibern bzw. Kopisten, die aus vielen einzeln überlieferten Texten das gesamte Buch der christlichen Bibel zusammensetzten. Einige Korrekturen und Kommentare stammen auch aus späteren Jahrhunderten.
Der Codex Sinaiticus ist eine Handschrift der christlichen Bibel, die in der Mitte des 4. Jahrhunderts geschrieben wurde und die erste überlieferte vollständige Fassung des Neuen Testaments darstellt. Kurz zuvor hatte Kaiser Konstantin die Verfolgung der Christen im Römischen Reich beendet. Der handgeschriebene Text ist auf Griechisch.
In der Mitte des 4. Jahrhunderts gab es ein verbreitetes, wenn auch kein vollständiges Verständnis darüber, welche Bücher für die christlichen Gemeinden als verbindlich anzusehen sind. Zum Codex Sinaiticus gehören auch Bücher, die nicht zur jüdischen Bibel gehören und in der protestantischen und teilweise vorher schon in der römisch-katholischen Tradition ausgelassen werden. Was schon für den Entdecker Tischendorf ein unmittelbarer Beweis für das hohe Alter des Textes darstellte, waren die beiden damals noch zum Neuen Testament gehörenden Schriften des Barnabas-Briefes und der 'Hirte' von Hermas.
'Codex' bedeutet 'Buch'. Als der Codex Sinaiticus geschrieben wurde, notierte man literarische Werke immer häufiger auf Blätter, die in einer Form gefaltet und gebunden wurden, die wir bis heute kennen. Das Buch-Format ersetzte die Buch-Rolle, die Texte in einer Folge von aneinandergeklebten Blättern tradierte, die insgesamt eine Rolle bildeten.
Der Codex Sinaiticus trägt seinen Namen nach dem Katharinenkloster auf dem Sinai, wo er viele Jahrhunderte lang aufbewahrt wurde. 43 Blätter sind seit 1844 im Besitz der Universitätsbibliothek Leipzig. 347 Blätter gelangten 1859 nach St. Petersburg, wurden von der sowjetischen Regierung 1933 verkauft und befinden sich nun in der British Library in London. Weitere kleine Manuskriptteile bewahrt die Russische Nationalbibliothek in St. Petersburg auf. Zwölf Blätter und 40 Fragmente sind im Katharinenkloster im Juni 1975 entdeckt worden.
Der Codex Sinaiticus ist das Prunkstück einer 116 Signaturen umfassenden Sammlung griechischer Handschriften in der Universitätsbibliothek Leipzig. Sie enthält neben dem Codex Sinaiticus weitere berühmte Einzelstücke, wie die Chronik des byzantinischen Chronisten Ioseph Genesios, der in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts lebte, oder das Zeremonienbuch des byzantinischen Kaisers Konstantin VII. Porphyrogennetos aus der Bibliothek des ungarischen Königs Matthias Corvinus, die einzige erhaltene Handschrift dieses Textes. Die Sammlung zeichnet sich weiterhin durch ein inhaltlich breites Spektrum aus, das von Bibelüberlieferung und theologischer Literatur über philosophische, poetische und historische Texte bis hin zum juristischen, medizinischen oder mathematisch-technischen Fachschrifttum reicht.
Das Katharinenkloster in einem Stich aus dem frühen 19. Jahrhundert (Slider, Abb. 2), in: Frederick Henniker: Notes during a visit to Egypt, Nubia, the Oasis, Mount Sinai and Jerusalem, London 1823, S. 234. [Quelle]
'Des Nachmittags [am 4. Februar 1859] machte ich mit dem Oekonom des Klosters einen Spaziergang auf die Berge, wobei wir im Gespräche auf die Uebersetzung der Septuaginta [das Alte Testament auf Griechisch] kamen. Ich hatte nämlich von meiner Ausgabe derselben sowie von meinen Ausgaben des Neuen Testaments den Klosterbrüdern mehrere Exemplare mitgebracht. Nach der Rückkehr ins Kloster traten wir in die Zelle des Oekonom ein. Hier, sagte derselbe habe auch ich eine Handschrift der Septuaginta; er holte sie, eingeschlagen in ein rothes Tuch, aus einem Winkel herbei, und legte sie vor mich auf den Tisch. Ich öffnete das Tuch, und erblickte was alle meine Erwartungen übertraf. [...] Und wie ich sogleich bemerkte, waren es nicht nur die von mir im Jahre 1844 aus dem Korbe geretteten Bücher des Alten Testaments, sondern auch, was noch von viel grösserer Wichtigkeit, das ganze Neue Testament, auch nicht durch die geringste Lücke entstellt, ja sogar noch bereichert durch den vollständigen Brief des Barnabas sowie, wie ich erst später bemerkte, durch den ersten Theil vom Hirten des Hermas.Den mächtigen Eindruck, den dieser Fund auf mich machte, vermochte ich nicht zu verhehlen. Ich trug das Buch [...] sogleich in meine eigene Zelle. Hier erst kam es mir zum vollen Bewusstsein, wie gross der Schatz sei, den ich in Händen hielt; Lob und Dank brachte ich dem Herrn dar, der damit Kirche und Wissenschaft und meine eigene in ihrem Dienst stehende Forschung so herrlich beschenkt. Gleich die erste Nacht schrieb ich den Barnabasbrief ab; denn neben einem solchen noch ungehobenen christlichen Schatz zu schlafen, schien mir eine Sünde.' [Konstantin Tischendorf, Vorworte zur Sinaitischen Bibelhandschrift, Leipzig 1862, S. 11-12] [https://katalog.ub.uni-leipzig.de/Record/0001018007]
Konstantin Tischendorf (1815–1874; Slider, Abb. 3) stammte aus Lengenfeld im Vogtland. Er studiert ab 1834 Theologie an der Universität Leipzig. Er war verheiratet und hatte acht Kinder. Seine wissenschaftliche Karriere begann mit der Entzifferung des Codex Ephraemi in Paris in den frühen 1840er Jahren. Ab 1845 lehrte er Theologie an der Universität Leipzig, reiste aber oft zu Handschriftenstudien durch den Vorderen Orient.
(Slider, Abb. 4) Hier beginnt, im direkten Anschluss an das Buch Esra 2, das Buch Esther (auch Ester) in der äußeren rechten Spalte. Später hat jemand auf Griechisch den Namen dieses Buchs der Bibel oben über die äußere rechte Spalte geschrieben.
Der Bibeltext beginnt mit: 1 a Im zweiten Jahr der Regierung Artaxerxes des Großen, am ersten Nisa, sah Mardochaios, der (Sohn) des Jaïros, (Sohn) des Semeïas, (Sohn) des Kisaias, aus dem Stamm Benjamin, ein Traumgesicht
(Slider, Abb. 5) Hier sieht man einige der insgesamt über 26.000 Korrekturen des Textes, die meisten stammen von den Schreibern selber, die vermutlich (heute verlorene) Papyrusfragmente abgeschrieben und gegenseitig verbessert hatten.
Der Bibeltext beginnt mit: 1 i Und sie riefen zu Gott. Aus ihrem Rufen entstand gleichsam wie aus einer kleinen Quelle ein großer Strom, viel Wasser
(Slider, Abb. 6) In der dritten Spalte, Zeile 9 findet sich ein Absatz zwischen den Versen 4 und 5. Das ist eine Ausnahme, denn normalerweise wird der Text ohne Gliederung und Satzzeichen durchgeschrieben, als 'durchgehende Schrift' (lat. scriptura continua).
Der Bibeltext beginnt mit: 16 Muchaios sagte zum König und zu den Obersten: Nicht allein dem König hat Königin Astin Unrecht getan, sondern auch allen Obersten und den Befehlshabern des Königs
(Slider, Abb. 7) Jedes Pergamentblatt hat eine Haut- und eine Haarseite, die weniger gut die Tinte aufnimmt und schlechter zu lesen ist, wie man hier sehen kann.
Der Bibeltext beginnt mit: 15 Als nun die Zeit für Esther, vollendet war, dass sie zum König hineingehen sollte, da verwarf sie nichts von dem, was ihr der Eunuch, der Wächter der Frauen, befohlen hatte; Esther pflegte nämlich Gnade zu finden bei allen, die sie anschauten.
(Slider, Abb. 8) Das ungleichmäßig starke Schriftbild auf einigen Seiten hat vermutlich – wie hier zu erkennen – damit zu tun, dass in früheren Jahrhunderten einige zu blasse Buchstaben nachgezogen wurden.
Der Bibeltext beginnt mit: 13 Durch Briefträger wurde ins Königreich des Artaxerxes (der Befehl) ausgesandt, man solle das Geschlecht der Juden an einem einzigen Tag auslöschen im zwölften Monat, das ist (der) Adar, und ihre Besitztümer plündern.
(Slider, Abb. 9) Hier sind Anmerkungen links außen und unten zu erkennen, die mit dem christlichen Märtyrer Pamphilus (gest. 309) in Verbindung gebracht werden, aus dessen reicher Bibliothek einige der hier abgeschrieben Handschriften stammen sollen.
Der Bibeltext beginnt mit: 9 Als aber Achthrathaios hineingegangen war, sagte er Esther all diese Worte.
Tischendorf und die Suche nach der ältesten Bibel, hg. v. Foteini Kolovou und Ulrich Johannes Schneider, Leipzig 2011 (Katalog zur Ausstellung in der Bibliotheca Albertina 18. Februar – 29. Mai 2011; Schriften aus der Universitätsbibliothek Leipzig; 21)
Codex Sinaiticus. Geschichte und Erschließung der 'Sinai-Bibel', hg. v. Ulrich Johannes Schneider, Leipzig 2006
2005 startete das Internationale Codex-Sinaiticus-Projekt, das Ende 2010 abgeschlossen wurde. Zentral beteiligt waren die vier Institutionen, die Teile der Handschrift besitzen: Die British Library in London, die Universitätsbibliothek in Leipzig, das Katharinenkloster auf dem Sinai und die Russische Nationalbibliothek in St. Petersburg.
Ergebnis ist die Edition aller noch vorhandenen Blätter und Fragmente des Codex Sinaiticus im Internet: www.codex-sinaiticus.net oder www.codexsinaiticus.org.
Zu sehen sind über 400 vollständig erhaltene Blätter sowie etwa 40 Fragmente. Die Erläuterungen zum Projekt und zur Handschrift schließen auch konservatorische Beschreibungen ein, die für jede einzelne Seite die Auffälligkeiten wie Risse, Löcher, Tintenfraß usw. vermerken. Die genauen physischen Beschreibungen wie die qualitativ hochwertigen Digitalaufnahmen in Normal- und Seitenbeleuchtung halten den Zustand aller Blätter exakt fest. Die Transkription gibt den Text mit Wortzwischenräumen wieder.
Eine Ausstellung der UB Leipzig zu Konstantin Tischendorf, den Entdecker des Codex Sinaiticus, fand 2011 statt; dazu gibt es online Informationen.